Der Letzte

von Nathanael Merten

Ich bin anders als der Rest der Welt. Ich habe eine andere Weltanschauung. Ich trage immer nur edle Kleidung, als ob jeden Tag ein besonderer Anlass wäre. Und das Ganze hat nur einen einzigen Grund: Jeden Moment kann man sterben und ich will dem Tod Respekt entgegen bringen, indem ich im potentiellen Moment des Todes durch meine Kleidung zeige, dass der Moment etwas Besonderes ist. Dass das Leben etwas Besonderes ist.
Die Menschen finden es lächerlich. Doch verstehen sie den Hintergrund lediglich nicht.
Im Anzug sitze ich am Schreibtisch und rufe meine Kunden an. Ich trage einen recht ungewöhnlichen Krawattenknoten, etwas das ich eben als etwas Besonderes empfinde.
In der Kantine sitzen alle mit ihren Jeans oder schlabbrigen Hosen herum. Nur ich trage meinen besten Anzug.
Frauen gefällt es. Manchmal allerdings nur bis zu dem Moment, in dem sie nach den Gründen fragen.
"Es ist ein Glaube, eine Weltanschauung, der mich dazu bringt, immer nur in edler, festlicher Kleidung herumzulaufen: Jeden Moment kann man sterben. Jeden! Und der Mensch auf Gottes Erden sollte dem Tod Respekt zollen, damit er nicht vergisst, dass das Leben alles ist, was er je hatte."
Manche verdrehen ihre Augen. Manche fangen an zu lachen. Manche warten darauf, dass ich sage, es wäre nur ein Scherz.
Doch es ist die Wahrheit.
Ich gehe über die Straße. Ein Autofahrer könnte mich übersehen und überfahren. Ein Wahnsinniger könnte mich abstechen. Mein Herz könnte plötzlich aufhören zu schlagen. Ein unvorhergesehener Herzinfakt, der in seltenen Fällen auch noch nicht sonderlich alte Menschen treffen kann.
Ich komme am anderen Bordstein an und fühle mich bestätigt. Es ist gut, dem Tod Respekt zu zollen. Denn niemand sonst tut es.

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