Sie I_IV

Nachfolgend eine Kurzgeschichte namens Sie I_IV. Lasst euch von Nathanael eine Geschichte erzählen; wäre ich doch nur wieder 15.


Sie I_IV

Eigentlich war ich noch ein Kind. Ein Jugendlicher mit 14, 15 Jahren. Wir gingen ins Schwimmbad. Ein paar Freunde und ich. Ein paar der Jungs nahmen ihre Freundinnen mit, die wiederum ihre Freundinnen mitnahmen.

Wir gingen also alle zusammen in ein großes Hallenbad. Erst war alles ganz normal. Wie Erwachsene waren wir im Becken und redeten über alles Mögliche. Wir waren ungefähr 15 Leute. Es war lustig, wir lachten viel. Ich glaube, ein Hauptaspekt davon war, dass wir Jungs versucht haben, vor den Mädels besonders selbstbewusst und witzig und erwachsen rüberzukommen, was die Art und Weise, wie wir redeten und was wir redeten stark beeinflusste. Nungut, wie auch immer. Irgendwann flackten wir uns dann alle unter die Wärmestrahler. Irgendwie wurde es ab da ruhiger. Ein paar holten sich ein Eis, ein paar holten sich Pommes, ein paar gingen mal auf Toilette. Und ich lag da. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich mich in dem Moment fühlte. Ich fand den Tag aber echt kuhl.
Und dann plötzlich hauchte mir eine die dabei war, die ich aber nicht kannte, was ins Ohr. "Komm mit", sagte sie. Sie nahm meine Hand und wir gingen so unauffällig, dass es niemand merkte. Sie war wunderschön. Dunkle Haare und ein umwerfend hübsches Gesicht. Sie zog mich an der Hand und ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschieht. Sie zog mich weiter in ein etwas abgelegeneres Massagedüsen-Whirlpool, wo nichts los war. Dann kam sie mir ganz nahe und küsste mich. Ihre Zunge berührte meine. Es war echt abgefahren. Ich war sicher nicht der gutaussehendste von den Jungs, die dabei waren und trotzdem schien ihr irgendwas an mir zu gefallen. Welcher 15-Jährige erlebt denn sowas schon?

Als wir später das Bad verließen, umarmte sie mich zum Abschied und gab mir einen Kuss auf die Wange. Lustigerweise merkten alle anderen nicht, dass wir vorher kurz zusammen weg waren und auch das mit dem Abschiedskuss merkte niemand.

Ich war völlig durch den Wind. Sie war so unglaublich toll. Die Tage danach fragte ich die Jungs, wer genau sie war und niemand wusste es so recht. Es war die Freundin einer Freundin der Freundin von einem. Mein Kumpel sagte, er würde mal seine Freundin fragen, ob sie sich mal schlau machen kann. Eines Tages rief ich sogar seine Freundin selber an, weil ich nicht mehr warten konnte. Sie meinte, sie fragt ihre Freundin mal und sagt mir über icq bescheid. Das tat sie nie. Und so vergingen die Wochen. Auf einer Party sah ich nach einigen Monaten mal die Freundin meines Kumpels und bohrte nach. Sie hätte es ganz verschwitzt, sich bei mir zu melden, außerdem habe sie meine icq-Nummer nicht gehabt. Die Freundin ihrer Freundin sei mit ihrem Vater ins Ausland gezogen, wo genau, weiß sie nicht mehr. Und die beiden hätten sich verstritten, weshalb sie von ihr im Leben nicht die Nummer von besagter Person bekommen könnte, ohne dass sie an die Decke geht.

Ich versuchte immer und immer wieder herauszufinden, wer sie war und wie ich sie erreichen könnte, doch es hat nicht sollen sein.
Ich bekam sie nicht mehr aus dem Kopf. An jedem melancholischen Abend dachte ich an sie. Mit der Zeit gestand ich mir ein, dass ich wahrscheinlich gar nicht in ihrer Liga spielte. Sonst hätte sie ja auch von sich aus mir ihre Nummer gegeben. Mit der Zeit war es für mich immer trauriger, wenn ich mal wieder an sie dachte.

Irgendwann war ich 23. Auf einer Party sah ich einige von meinen alten Freunden wieder. Erstaunlicherweise auch die Freundin meines Kumpels, von deren Freundin die Freundin die unglaublichste Person in meinem Leben war. Ich konnte nicht anders, als nach ihr zu fragen. Und erstaunlicherweise erzählte sie mir, meine Hallenbad-Bekanntschaft sei mit ihrem Vater wieder nach Deutschland gezogen und hätte mit ihr vor einigen Jahren auch mal wieder Kontakt gehabt; allerdings wäre das die letzten Jahre auch wieder eingeschlafen. Sie fragt aber mal ihre Freundin, ob sie mir die Nummer geben kann.
Zwei Tage später bekam ich ihre Nummer per icq. Ich musste 8 Jahre darauf warten. 8 Jahre! Und jetzt bekam ich sie endlich. Ich wusste gar nicht, was ich ihr am Telefon hätte sagen sollen. "Hey, ich weiß nicht ob du dich erinnerst, aber wir waren vor 8 Jahren mal zusammen baden..." Auch wenn ich mir gedanklich nichts besseres als irgendwie sowas zusammenreimen konnte, überwand ich mich nach Stunden, sie anzurufen. Aber: "Diese Nummer ist momentan nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal. Please call again later." Und so war es auch eine Stunde später. Und den ganzen Abend hindurch. Und am nächsten Tag. Und am übernächsten Tag. Es reichte jetzt einfach. Ich musste mit ihrer direkten Freundin sprechen. Nach ewigem Rumtelefonieren hatte ich sie auch am Telefon. Wahrscheinlich machten sie sich schon alle lustig darüber, wie besessen ich von einer Person war, die ich doch gar nicht kannte. Aber es war mir egal. Nie wieder habe ich eine Person wie sie kennen gelernt. Ich fragte, ob sie denn nicht eine Festnetznummer von ihr hätte, denn auf dem Handy ginge niemand ran, schon seit Tagen nicht. Sie kramte ein bisschen und gab mir ihre Festnetznummer durch. Ich rief an. Ein sympatisch klingender Mann war dran, mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Vater. Ich fragte, ob er mir SIE geben könnte, falls sie noch zu Hause wohnt und gerade da sein sollte. Er ging gar nicht darauf ein. Er sagte: "Wann hast du sie denn das letzte Mal gesehen?" Und ich sagte: "Wissen Sie, das ist etwas kompliziert es ist schon ... einige Jahre her."
"Oh," antwortete er, "dann hast du es wohl nicht erfahren." Seine Stimme wurde etwas zittrig. "Sie ist .. gestorben. Vor 2 Jahren."
Ich war perplex. Meine Welt brach zusammen, da SIE immer einen so großen Teil von mir ausmachte. Mein Leben lang hoffte ich darauf, sie wieder zu sehen. Ich hätte alles für sie getan.
Sie sei krank geworden und nach ein paar Monaten gestorben.

Später setzte ich mich auf mein Bett und blickte mit einem kalten, traurigen Blick aus dem Fenster. Ich hatte alles verloren, was ich nie hatte. Alles was ich je haben wollte, gab es jetzt nicht mehr. Die Tage danach fühlten sich so leer an. Alles erschien so sinnlos, da sie nicht mehr da war. Ich hatte nichts mehr, an das es sich zwischendurch und an melancholischen Abenden lohnte, zu denken. Ich hatte alles verloren. Hätte ich mich mehr anstrengen sollen, sie schon früher ausfindig zu machen? Aber wie? Hätte ich ihr als Jugendlicher ins Ausland nachreisen sollen? Ich hatte doch noch nicht mal eine Adresse oder Nachnamen. Und wenn ich ihr nachgereist wäre und sie tatsächlich gefunden hätte: Welche gemeinsame Zukunft hätte das schon sein können? Sie kannte mich doch gar nicht. Sie hat mich doch nur vor Jahren mal im Schwimmbad verstört, fasziniert und mir auf ewig mein Herz genommen.

(c) 2011, Nathanael Merten, http://nathanaelmerten.blogspot.com/

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