Kapitel "Sie" aus "Wie mich meine Nachbarin und der Tresenphilosoph noch mehr verstörten"
So, seit 10. Juni 2011 gibt es hier ja bereits ein Kapitel zum probe lesen, jetzt gibt es noch ein zweites kostnelos lesbares Kapitel namens Sie. Ich habe mich für dieses entschieden, da es mein Lieblingskapitel ist. Das Buch ist hier bestellbar (solange die Exemplare der jetzigen 2. Auflage noch ausreichen ;)
Warum eigentlich gerade jetzt? Es scheint sich abzuzeichnen, dass es auf die eine oder andere Weise eine Fortsetzung des Buches gibt (oder nach meinem inneren Empfinden geben muss).
Warum eigentlich gerade jetzt? Es scheint sich abzuzeichnen, dass es auf die eine oder andere Weise eine Fortsetzung des Buches gibt (oder nach meinem inneren Empfinden geben muss).
Sie
Es gibt eine Frau in meinem Leben, die mich mit absoluter Sehnsucht erfüllt. Doch dabei weiß sie es noch nicht einmal. Und komischerweise ist sie meine Nachbarin. Als ich hier einzog, sah ich sie das erste Mal. Ihr Anblick machte mich sprachlos. Sie unterhielt sich kurz mit mir, ob ich jetzt ihr neuer Nachbar sei und machte mich nervös und atemlos mit ihrem Lächeln und ihren Augen. Sie ist einfach … wundervoll. Wie sie immer freundlich und nett und perfekt aussehend ist. Und ich komme mir vor, als hätte ich bei ihr niemals eine Chance. Im Laufe der Zeit habe ich es förmlich darauf angelegt sie zu sehen. Es fing damit an, dass wir uns öfter mal im Treppenhaus begegneten. Nachdem ich mindestens vier Mal immer nur „Hi“ zu ihr gesagt habe, riss ich mich zusammen. Ich dachte an meinen persönlichen kostenlosen Newsletter-Coach, der mir sagte: Sprich sie an, oder eben nicht – mach dir bewusst, dass es deine Entscheidung ist und niemand anders als du schuld ist, wenn ihr nie in Kontakt kommt. Als ich sie also ihre Post aus dem Briefkasten hinter der Tür holen sah, sagte ich „Hi, und … danke auch für die nette Begrüßung letztens…“ Mir fiel einfach nichts besseres ein. Auch die Methode des frechen Humors, von dem ich zig mal las, um mich für sie inspirieren zu lassen, lies mich im Stich. „Aber gern geschehen!“, antwortete sie und ich kam mir irgendwie doof vor. Als ob man gerade einem Bundesliga-Spieler danke für’s Autogramm gesagt hätte. In diesem Moment verpasste der imaginäre Dating-Newsletter-Coach meinem Gehirn eine Gehirnfeige. „Du Doofi, ich sagte dir doch bereits, dass nur du schuld bist, wenn du sie jetzt nicht auf einen Kaffe einlädst! Sei ein Mann und kein schwächliches Weichei!“ Tatsächlich gab mir das zu denken. Ich war keine 17 mehr, wo man sich damit hätte rausreden können, dass man mit Frauen so unerfahren wäre und sich deshalb nicht getraut hat. Also tat ich es. Ich machte meinen Mund nochmal auf und sagte der perfekten Frau meines real life: „Hey, nicht dass ich jetzt platt rüberkommen will, aber wir könnten doch mal einen Kaffee trinken gehen. Also als neue Nachbarn quasi.“ Ich sagte es nicht ganz so sicher, wie der Coach es von mir gewollt hätte, aber immerhin sagte ich was. „Na klar, eine gute Idee. Ich freue mich immer mal nette Leute näher kennen zu lernen.“ Besser konnte ich mir ihre Reaktion gar nicht vorstellen. Dass sie mir nicht in die Augen sah, mir immer näher kam und mich einfach küsste, war ja klar. Auch wenn das toll gewesen wäre. Danach hätte sie mir noch ins Ohr hauchen können: Ich habe mich in dich verliebt vom ersten Tag an, als ich dich sah. Aber ok – wann werden schon Träume wahr außer im Traum. Und dann sagte sie: „Also dann, ich geh mal wieder nach oben. Hat mich gefreut, Nachbar!“, und ging. Hätte ich in Abwägung ihrer Reaktion die Zeit zurückdrehen können, dann hätte ich mich jetzt auf die Knie geworfen und ihr, während sie die erste Treppe nach oben läuft, hinterhergerufen: „Aber WANN denn? Du kannst mich doch nicht ohne feste Vereinbarung hier stehen lassen!“ Vielleicht hätte sie es lustig gefunden. Oder „süß“. Der Coach hätte mir bestimmt dazu geraten, es zu tun. Denn wenn man das tut, was ein Mann normalerweise nicht tut, macht man sich attraktiv für Frauen. Welch Weisheit, aber ich habe meine Zweifel, Coach, ob das wirklich funktioniert… bzw.: Ich habe Angst davor, dass es nicht funktionieren könnte.
Ich war zwar einen kleinen Schritt weiter, aber sonst auch nichts weiter.
Jeden Tag, wenn ich zu meiner Haustür lief, malte ich mir aus, was ich ihr nun sagen könnte, falls ich sie sehen sollte. Sobald ich mir dachte, dass dies oder jenes peinlich für mich enden könnte, sagte ich mir einen Satz des Tresenphilosophen vor, den ich mir gemerkt habe: „Wem etwas peinlich ist, tut nicht das, was er eigentlich tun will. Und was ist man, wenn nicht das tut, was man eigentlich tun will? Richtig, unglücklich. Allerdings haben Sie ein großes Problem, wenn Sie etwas nur eigentlich tun wollen. Denn wer etwas eigentlich tun will, will es nicht wirklich tun. Als sollten wir uns immer entscheiden, ob wir es nun durchziehen, oder es lassen. Das Eigentlich macht unglücklich. Merken Sie sich das!“ Und auch hierin sprach er die Wahrheit. Wenn sogar Wolfang Petry („ganz oder gar nicht..“) diesem Gedanken zustimmte, sollte ich mich daran halten. Also sperrte ich wie jeden Tag die Tür auf und lief die erste Treppe nach oben. Und da kam sie mir eines Tages entgegen. Sie sagte „Hi“, ich sagte „Hey“. Sie lief mir ein wenig langsamer entgegen und das war also der Moment, den ich mir so lange vorstellte. Ich habe mich nach reiflicher Überlegung dazu entschieden, den lockeren Nachbar zu spielen. Ich machte genau das, was man machen muss, um Erfolg zu haben: den Hochstapler.
Lassen Sie mich das kurz erklären, bisher fand den Hochstapler jeder toll: Warum sind Hochstapler erfolgreich? Richtig, weil sie authentisch etwas vorgeben zu sein, was sie nicht sind. Man kann dieses Talent erlernen und für sich im legalen Bereich nutzen, lernte ich zumindest vom Coach. Wenn man also nervös ist, spielt man das Spiel, indem man so tut, als wäre man nicht nervös. Und wenn man weiß, dass Frauen eher auf lockere, unverbindliche Leute stehen, dann tut man so, als wäre man so, auch wenn man’s nicht ist.
Also habe ich in dieser Situation den Hochstapler gemacht. Ich sagte nach meinem „Hey“ nur zwei Worte: „Heute? Kaffee?“ Dann sah ich ganz locker auf meine Uhr und sagte ganz lässig: „Obwohl, vielleicht etwas spät dafür. Heute Cocktail? Ich wollte heute mal die neue Cocktail-Bar vorne an der Kreuzung ausprobieren.“ Durch den letzten Satz signalisierte ich, dass ich heute sowieso Cocktail trinken gegangen wäre, auch wenn sie mir nicht begegnet wäre – was ich natürlich nicht getan hätte. Wie hätte sie so jemand wie mir noch eine Absage erteilen können?
„Ui, du bist aber spontan. Aber klingt gut, da war ich auch noch nicht – ich muss allerdings morgen arbeiten...“ „Ich hole dich um halb 9 ab, ok?“ Ja, so setzte ich mein erworbenes Geschick gekonnt um. Gar nicht erst auf negative Einwände eingehen. Sie stimmte zu und ich hatte 90 Minuten zum Essen, Duschen und Stylen.
Ich hatte nicht sonderlich Hunger. Ich stopfte mir nur eine Kleinigkeit rein. Dating-Nervosität. Flauer Magen. Wenn ich nun noch Jugendlicher gewesen wäre, wäre ich unter der Dusche gestanden und hätte über nichts anderes als sie nachgedacht. Hätte mich in die Zukunft geträumt, wie perfekt eine Beziehung mit ihr wäre. Was es für ein Glück für mich wäre. Doch diesen Jungen gab es nicht mehr. Der Coach hat mich umerzogen. Jetzt stand ich unter der Dusche und versuchte mich auf das im-Endeffekt-Date zu freuen. Den Moment der Anspannung zu genießen. Die Zukunft wegzuschieben und mich nur auf das Jetzt zu konzentrieren. Während also die jugendliche Version von mir es wie Arbeit empfand, sich durch ein Date zu kotzen, um sie zu bekommen, versuchte die heutige Version, die Momente zu schätzen. Jeden für sich. So lehrte es mich der Coach. Und ich fand das eine echte Bereicherung für mein Leben. So wie Leute mit Essstörung Essen in Gemeinschaft jedes Mal als Anstrengung und Prüfung empfinden, so waren es bei mir Dates. Auch wenn es mir nicht völlig gelingt: Heute genieße ich das, was einst für mich eine Bewährungsprobe war. Ja Coach, ich werde mein Glück nicht von ihr abhängig machen. Ich werde einen schönen Abend haben, ihr zeigen, wie schön ein Abend mit mir sein kann und der Rest interessiert gerade nicht. Ich drehte den Wasserhahn zu und griff aus der Dusche nach dem Handtuch, das ich mir bereitlegte.
Später klingelte ich bei ihr. „Interessantes Outfit“ sagte ich und sie grinste mich an, während sie auf ihre Unterlippe biss.
Der kurze Weg zur Bar zeigte meine wahre Persönlichkeit, denn bei Smalltalk spult man das Immergleiche ab, das gewissermaßen einiges vom Charakter widerspiegelt. Ist man ein Nörgler, der sich über alles und jeden aufregt? Hat man eine positive Einstellung? Lacht man schnell? All das zeigt ein Smalltalk. Passen Sie das nächste Mal darauf auf, wie Recht ich hierbei habe.
„Und, wie geht’s denn?“, eröffnete ich den Persönlichkeitstalk.
„Sehr gut – und dir? Gefällt dir eigentlich die Wohngegend?“
„Mir geht’s fabelhaft.“
„Was, gleich ‚fabelhaft‘? Das hört man aber nicht oft…“
„Sachen gibt’s, oder?“, sagte ich mit einem nach-oben-Nicken und Grinsen. Warum denn auch bei Smalltalks das Seelenbefinden ins Spiel bringen?
Und da war ich also: Mit der wundervollsten Frau in meinem Leben in einer Cocktail-Bar. Ich hatte nur noch Augen für sie. Klar fand ich andere Frauen auch schon quasi perfekt für mich. Aber die Erde hat sich mittlerweile eben weitergedreht und wenn man so eine dann nie mehr oder nur alle paar Jahre sieht, verschwindet sie aus dem Kopf. Im besten Fall bleibt ein Name und eine kleiner Erinnerung zurück. Im Normalfall vergisst man sie nahezu völlig. Sie bleibt noch nicht mal ein Strich auf der imaginären Liste der Frauen, die man einfach perfekt fand.
„Was denkst du denn nach?“, fragte sie mich. Ich musste mich jetzt um sie kümmern. Wieder im Jetzt leben. Ich tauchte meinen Strohhalm ein, rührte ein bisschen, schaute ins Glas und sagte dabei: „Ist manchmal schon komisch, wie sich alles verändert. Als ob man verschiedene Leben aneinanderreiht. In einem ist man der naive Schüler, der bei Mama wohnt, im nächsten der arrogante Karriereträumer und dann eine Zeit lang jemand, der vor sich hin lebt.“
„Redest du von dir?“
„Nein, ich meine das nur allgemein. Kommt es dir nicht auch so vor?“
„Naja, stimmt schon. Ich war mal eineinhalb Jahre mit jemand zusammen, der mich irgendwie ziemlich verändert hat.“
„Sag ich doch – als ob man plötzlich ein anderes Leben als andere Person führt.“
„Nicht schlecht, Herr Nachbar. Und wer warst du im letzten Leben?“
„Pff, nichts Besonderes. Und dann habe ich meinen Porsche verkauft, einen ruhigeren Job gesucht und bin in deinen Block gezogen.“
Sie lachte. Wiedermal ein Beweis dafür, dass man Frauen mit Dingen zum Lachen bringt, über die man in einem Männergespräch niemals lachen würde. Aber mir soll’s recht sein. Grins.
Die Bar hatte wirklich was Stilvolles. Wir saßen an einem Fenster im zweiten Stock. Unten sah man auf die riesige jeweils vierspurige Stadtkreuzung. Die Autos fuhren durchs Dunkel.
Sie sagte wie aus dem nichts: „Weißt du – ich könnte ewig hier sitzen und einfach nur auf die Straße schauen. Finde ich wunderschön.“ Das hat mich geistig gesprochen nahezu vom Hocker gehauen. Das gleiche dachte ich mir schon immer. Ich liebte es – deswegen habe ich uns auch diesen Tisch besorgt. „Uuh, eine Seelenverwandschaft – ich steh auch total drauf“, sagte ich mit einem durchaus ernsten Ton. Wir schwiegen einige Zeit und schauten nach unten. Dann wollte ich das Gespräch weiterführen:
„Was machst du denn sonst so Abends?“
„Ich bin ungern allein, also mache ich meistens was mit Freunden. Ich habe am liebsten immer jemand um mich.“
Ok – das war nicht wirklich eine Gemeinsamkeit. Ich war oft lieber alleine. Doch sie setzte eine weitere Ungemeinsamkeit oben drauf:
„Naja, und ich bin gern unterwegs. Wir machen öfter mal so Mehrtagetrips nach Italien oder Frankreich. Hauptsache nicht immer das Gleiche machen.“
Mhh… was sollte ich darauf schon sagen? Ich mag keine Sinnlostrips? Ich bin gern allein? Ich geh lieber in meine Lieblingsbar und schlaf dann aus, anstatt stundenlang im Auto zu sitzen, um dann übermüdet in einem anderen Land Geld auszugeben? Ich dachte mir, es wäre besser, den Mund darüber zu halten. Und dann kam schon die Gegenfrage: „Und du?“. Fernsehen, Bier trinken, Rumphilosopieren. Das wäre wohl meine Standardantwort gewesen. Aber die konnte ich hier einfach nicht bringen. Also entschied ich mich, nur partielle Interessensaspekte zu bringen. „Ich lerne gern neue Leute kennen und schaue, dass ich neben Arbeit noch Zeit für meine Interessen habe.“ Ich musste nun schnell umschwenken. „Und ich stehe auf Haus-Partys. Gibt kaum was kuhleres, besonders wenn es einfach gut aussieht. Also im Haus. Oder einen Pool hat. Und sowas.“
„Hey, das trifft sich ganz gut. Ich gebe demnächst eine Party bei mir. Ist zwar kein Haus, aber immerhin eine Wohnung. Du kannst gern mal vorbeischauen. Diesen Freitag.“
„Klar gerne, danke für die Einladung.“
Wir saßen noch eine ganze Weile am Fenster und unterhielten uns. Wo wir herkommen, über alte Zeiten, was wir ursprünglich mal machen wollten, bevor wir in einem Job, den wir nie machen wollten, landeten.
Sie hatte wohl ziemlichen Spaß und ihr schmeckten die beiden Cocktails. Beim Heimgehen sagte sie: „Lass uns öfter mal was machen.“ Zweifellos trug der Alkohol dazu bei, dass eine Frau so etwas von sich aus sagte. Es mag sicher ein wenig frauenfeindlich klingen, aber bei meiner Ex habe ich mir immer gewünscht, sie würde nur ständig einen gewissen Alkoholpegel halten. Das waren die einzigen seltenen Momente, in denen sie erträglich war. Zumindest muss ich das im Nachhinein gesehen sagen. Wahrscheinlich ist dieser Gedanke ein treffender, beschreibender Höhepunkt wie furchtbar, schrecklich, elendig und abstoßend die Beziehung war. Zumindest – muss man wiederum dazu sagen – im Nachhinein gesehen. Denn währenddessen war man im Gedanken gefangen, dass man mit ihr doch sein Leben verbringen will. Warum auch immer. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich heute der bin, der ich bin. Was soll’s. Aber eines weiß ich sicher: Meine Nachbarin ist so anders als meine Ex… Wäre ich doch bloß mit ihr statt mit ihr zusammen gewesen.
Ich sperrte die Tür auf und nachdem wir die Treppe zu meiner Wohnung hochliefen, blieben wir stehen. Sie umarmte mich sogar zum Abschied. Wie schnell man sich doch nach einem einzigen Abend manchmal wie alte Freunde verhält. Oder es ist der Alkohol. Welche Frau wie sie würde jemand, den sie eigentlich nicht kennt, schon nüchtern zum Abschied umarmen (zumindest in dieser Gegend)?
Im Großen und Ganzen war ich mit dem Abend wirklich zufrieden. Vielleicht wäre sogar der Coach auf mich stolz gewesen. Allerdings war ich ihm etwas untreu und träumte die nächsten Tage in vielen Momenten davon, wie es wohl wäre, mit ihr zusammen zu sein.
Ihre Party rückte näher und die Tage vergingen wie im Flug. Ich arbeitete sogar länger, damit die Abende kürzer wurden. Nicht dass ich derart arbeitsbegeistert gewesen wäre. Aber irgendwie sah ich diese Tage als Gelegenheit an, den Schreibtisch richtig abzuarbeiten. Zumal ich selten so gut gelaunt wie diese Tage in der Arbeit war.
Der Freitag kam schließlich. In der Cocktail-Bar sagte sie mir, die Party würde langsam so ab 20 Uhr losgehen. Also stand ich um 21 Uhr vor ihrer Tür.
Eigentlich redete ich mir ein, nach dem Motto „mir ist nichts mehr peinlich“ zu leben. Doch das war eine Lüge. Jemand, den ich nicht kannte, machte die Tür auf und ich ging durch eine menschenvolle Wohnung in das Wohnzimmer meiner Nachbarin, das ich jetzt zum ersten Mal in meinem Leben betrat. Und ich kannte einfach niemand. Ich fühlte mich doof und unwohl. Ich sagte Hi und Hey, aber ich ahnte es schon.
Sie sah ich erst mal gar nicht. Nachdem ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank genommen hatte, bemerkte ich, dass sie lachend draußen am Balkon war, den man von einer Wohnzimmerecke aus betreten konnte.
Am besten warte ich, bis sie wieder drinnen ist, um Hallo zu sagen, dachte ich mir. Ich stand also herum und beobachtete die fremden Leute. Ich schätzte das Alter der Leute. Letzten Endes kam ich auf eine Untergrenze von ca. 22-24 und auf eine Obergrenze von ca. 35. Passte perfekt. Nur wollte ich gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn ich mal die 35 überschritt.
Und dann kam sie herein. Erst bemerkte sie mich gar nicht, doch dann kam sie zu mir, berührte mich am Arm und sagte: „Schön, dass du gekommen bist. Ich hoffe dir gefällt’s!“ Bevor ich antworten konnte wurde sie von einer Freundin mit ins Bad gezogen. Anscheinend wollte sie ihr dringend was erzählen. Als ob es dringender als ein „Ich liebe dich“ von mir sein könnte.
Da auf dem relativ kleinen Balkon nun niemand mehr war, ergriff ich die Gelegenheit und wollte mit meinem Bier rausgehen. Entschlossen melancholisch ging ich zur Balkontür als mir die Ouzo-Flasche auffiel. Ich nahm mir einen danebenstehenden Becher, schenkte ein paar Kurze rein und nahm somit noch einen zweiten Freund mit. Balkonparty zu dritt, was will ich mehr.
Die Stadt sah schön von hier oben aus. Wahrscheinlich sagte meine Nachbarin nur an Abenden, die sie mit Langweilern alleine in einer Cocktail-Bar verbrachte, dass sie so etwas schön fand. Wahrscheinlich wäre mir meine Traumfrau zu langweilig. Ich grinste in die Nacht und nahm einen großen Schluck Ouzo.
Ich hatte weder etwas zu verlieren, noch sah ich ein, einen auf Außenseiter zu machen. Ich war schließlich nicht 14 und kam auch gerade nicht in eine neue Klasse in einer fremden Stadt. Also ging ich nach einem motivierenden Ouzo wieder rein und wollte jemand ansprechen. Und hierbei gab es in meinem Leben nur einen, der mir helfen könnte. Der Coach. Und er sagte: „Lieber sprichst du eine Frau mit einem Klassiker an, als dass du keine ansprichst und alleine den Abend verbringst. Und mit Klassiker meine ich nicht ‚Ich glaube, ich kenne dich von morgen‘, sondern ein ‚Hey, wie geht’s? Ich bin der …‘“
Danke Coach.
Da ich mir blöd vorgekommen wäre, wenn ich aus dem Nichts einen ihrer männlichen Freunde angesprochen hätte, ging ich auf eine zu, die sich gerade was von der Bowle nahm. Da mir einfach nichts besseres einfallen wollte, stand ich neben ihr, nahm mir einen Becher, schenkte auch etwas Bowle ein und sagte: Hey, ich bin.. Wie geht’s?
Es war wiederum irgendwie blöd. Gab es denn keine besseren Sprüche, um mit jemand ein Gespräch anzufangen? Sie zu fragen, ob die Bowle gut ist, wäre mir zu blöd gewesen und einen Spruch über ihr knallrotes Top fand ich zu offensiv.
„Hi, ich bin die Anita.“
„Freut mich. Nettes Top übrigens, steht dir gut.“
„Danke :)“
So waren die Frauen. Entweder ich stellte eine langweilige Allerweltsfrage oder das Gespräch war beendet. Und was sollte ich schon sagen? Ihr von dem Blog erzählen, auf den ich heute stieß und den ich echt gut fand? Sie fragen, woher sie meine Nachbarin kennt? Auf beides hatte ich keine Lust. In mein Gedankenbild schob sich eine große Frage: Was würde der Tresenphilosoph nun sagen? Würde er so wie damals mit mir in der Bar mit ihr reden? Oder würde er mit ihr ganz anders, ganz normal reden? Aber wie redet man ganz normal? Oder wäre er einfach einer der vielen anderen hier, würde mit seinen Freunden lachen, Nonsense reden und trinken? Ich hatte noch nicht mal einen Anhaltspunkt für etwaige Antworten.
Ich hätte extremst Lust gehabt, mich weiter mit ihr zu unterhalten. Doch ich war nicht der Coach und auch nicht der Tresenph.. ihr wisst schon.
„Also dann Prost“, sagte ich und hob dabei meinen Becher. Sie stieß mit mir an und obwohl ich bewusst dort stehen blieb, da sie mir ja eventuell noch was sagen wollte, ging sie wieder zu ihren Freunden. Was für ein Dilemma.
Darauf erstmal noch ein Ouzo.
Später ging ich in ihre Küche. Auch da waren einige Menschen, die ich natürlich ebenfalls nicht kannte. Aber immerhin gab es was zu essen. Etwaige Nervosität war dank Langeweile, Alkohol und Frustration, dass ich mir hier wie ein Sonderling vorkam, sowieso gegessen. Und dann kam sie.
„Na“, sagte sie und lächelte mich an, als sie in die Küche kam.
„Schmeckt gut. Selbst gemacht?“
„Spinnst du? Hab ich natürlich mitbringen lassen – man soll es ja nicht übertreiben.“
Mein Magen zog sich zusammen und mein Herz schlug schneller. Sie war so wunderbar.
„Nette Aussicht übrigens von deinem Balkon.“
Hätte ich nicht irgendwas interessanteres sagen können? Wenn ich recht bedenke: Eigentlich nicht.
„Oh ja, in den Balkon habe ich mich recht schnell verliebt.“
In dem Moment wurde mir klar, dass ich jetzt etwas tun musste. Ich musste auf den Coach hören. Also dachte ich Sekundenbruchteile nach, was er mir raten würde, zu sagen. Sei anders als die anderen, aber sei kein Spinner oder Psychopath. Sei charmant und dennoch herausfordernd. Sei locker, aber zeige, dass du auch intelligent bist. Nichts davon wollte mir helfen. Also konnte ich nicht auf ihn hören, auch wenn ich es gewollt hätte. Ich musste wohl eine andere Strategie fahren.
„Interessante Kette übrigens.“ Und das war sie wirklich. Sie trug eine Kette mit einem kleinen Herz und einem Minischlüssel als Anhänger. „Eine tiefgehende Kette, wenn du verstehst“, ergänzte ich, um mich mit einer cleveren Aussage zu umgeben.
„Oh Danke, die gefiel mir auf Anhieb, musste ich einfach haben.“
Sie sprang auf mein Wortspiel nicht an. Was soll‘s.
„Und was sagt Herr Tiefgang zur Symbolkraft der Kette?“ Ok, also doch. Ich unterschätzte sie… Wahrscheinlich unterschätze ich alle Frauen.
Aber ihre Frage war doof. Was hätte ich denn darauf bitte sagen sollen? ‚Der Schlüssel zum Herzen‘ war ja mal unglaublich platt. Also sagte ich einfach das nächste, das mir in den Sinn kam.
„Du wünschst dir die Macht, ein Herz, das du erwählst, ansprechen zu können, während du gleichzeitig dein eigenes in der Hand haben willst. Deine Sehnsüchte erfassen und erfüllen können.“
„Aber Herr Nachbar, wie romantisch.“ Sie biss sich ein wenig auf die Unterlippe, während sie auf mein Hemd schaute. Das wäre eigentlich der Moment gewesen, in dem sie mich zu sich heranziehen und hätte küssen sollen. Sie weckte unglaubliche Sehnsucht in mir.
„Du hast also Sucht nach mehr?“, fragte sie dann plötzlich.
Ich verstand erst nicht. „Ob ich mehr…?“, fing ich stockend an nachzuhaken.
„Dein Hemd!“
Erst jetzt verstand ich. Auf meinem Hemd stand von ihr aus links oben gesehen >Sucht nach Meer<. Tatsächlich war das Hemd ein Unikat. Ich stand auf das mehr-Meer-Wortspiel.
„Es ist mein großes Geheimnis, was das in Wirklichkeit bedeutet“, antwortete ich lächelnd. „Aber vielleicht bekommst du es ja irgendwann mal heraus.“
„Spaßbremse“, erwiderte sie gespielt trotzig.
Und dann wurde sie von einer Freundin gerufen und weg war sie. Ich konnte jetzt zwar wieder atmen, aber ich fühlte mich, als hätte sie meine Seele mitgenommen.
Es war dann recht unspektakulär. Ich nahm mir noch ein Bier, hörte mir von Irgendeinem schlechte Frauenwitze an und ging schließlich nach Hause. Also ein paar Stöcke tiefer. Es hat sich einfach nicht mehr ergeben, mit ihr weiter zu sprechen. Und sie kam auch nicht mehr von selbst auf mich zu.
Die nächsten Tage war ich durch den Wind. Dachte ständig daran, wie perfekt sie für mich war. Und nichts änderte sich. Außer, dass ich mich in ihr verlieren wollte. Mein Gehirn wurde frittiert. >Ich bin da und bin ich es nicht. Ich verliere mein Gesicht.<
Und so ging es weiter. Tag für Tag.
Als ob man total besoffen ist und gleichzeitig klar denken kann. Ich rede mit ihr im Treppenhaus und vor der Tür. Manchmal sogar zwanzig Minuten. Sie ist das Auto, das ich nicht probe fahren darf, da ich nicht in seiner Liga spiele. Ich bin ihr Dienstagabend-Film. Ich bin ihr Kaubonbon für Zwischendurch. Etwas, das man eben mal mitnimmt. Das man nicht weiter in Erwägung zieht. Etwas, an das man sich nicht erinnert. Über das man nicht nachdenkt.
Ich habe nicht den Mumm, ihr zu sagen, wie viel ich für sie empfinde und wie wundervoll ich sie finde. Wobei es eher an der Angst vor einer negativen Reaktion liegt. Ich hoffe seit Monaten darauf, dass der Coach recht hat und ich sie dazu bringe, sich unsterblich in mich zu verlieben. Doch es soll einfach nicht sein. Ich beachte die Regeln: Ich komme ihr nahe, aber nicht zu sehr. Ich erzähle ihr etwas, aber nur so viel, dass ich für sie geheimnisvoll bleibe. Ich bringe sie zum Lachen und zeige ihr, dass ich kein Weichei bin. Doch es funktioniert nicht, Coach! Ich kann wohl nicht verbergen, dass ich ein Sonderling bin. Ein Sonderling auf dieser Welt. Bin ich ihr zu unnormal? Zu abgespaced? Zu intelligent? Kann man einer Frau zu intelligent sein? Ist der Coach weniger intelligent als er rüberkommt, und klappen deswegen seine Methoden?
Genügt ihr ein Typ mit Wanzenhirn, solange er noch andere Dinge als ich mitbringt? Wenn ja, was? Mehr Geld?
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